
E4 in Griechenland, Nordteil, 1991
Es war 1991, drei Jahre, nachdem wir unsre Karieren als Leichtathleten beendet hatten. In den beiden Jahren davor hatten wir praktisch durch das ganze Most- und Mühlviertel, sowie in der Toskana von Florenz bis zum Trasimenosee erwandert. Es war an der Zeit, Kinder zu bekommen und endlich erwachsen zu werden. Und natürlich:
Vorher noch das große Abenteuer zu erleben.
Wir waren mehrmals in Griechenland auf Trainingslager gewesen, daher konnten wir uns dort, guten Willen der Gesprächspartner vorausgesetzt, einigermaßen verständigen. Durch Griechenland, so hatten wir herausgefunden, führte der E4. Und den, so beschlossen wir, wollten wir gehen, und zwar von der Jugoslawischen Grenze so weit nach Süden, wie wir in vier Wochen kommen würden. Wir schrieben an den EOH, den Griechischen Alpenverein. Die bestätigten, dass es diesen Weg gibt, es sei mit gelben E4 Schildern markiert, und schickten uns einen Zettel. Auf der Vorderseite waren die Nördlichen Etappen, auf der Rückseite die am Peloponnes beschrieben. Mehr Material gäbe es nicht, Karten seien lediglich vom Olymp verfügbar. Ähnliches hat uns auch die Griechische Zentrale für Fremdenverkehr aus Wien geschrieben, allerdings gab es da noch ein Verzeichnis von den Telefonnummern der lokalen Sektionen. Auch bei Freytag und Berndt konnte man uns keine Karten besorgen. Das Beste, das es gab, war eine Straßenkarte 1:100.000. Google Maps, GPS, Internet, all das war noch nicht wirklich erfunden.
Langsam rückte die Abfahrt näher. Konditionell waren wir gut vorbereitet, aber in Jugoslawien wurde es zunehmend unruhig. Wir hatten zwar Karten für die Fahrt über Wien, Zagreb, Belgrad nach Thessaloniki und weiter nach Florina, unsren Startpunkt, aber ein paar Tage vor Abreise konnten die ÖBB nicht versprechen, dass der Zug auch tatsächlich fahren würde. Gebannt verfolgten wir die Nachrichten, und endlich, am 28. August, wanderten wir die Stunde nach Attnang Puchheim und stiegen in den Zug. In Wien war die Situation immer noch unklar, aber schlussendlich fuhr ein Zug, etwas verspätet, Richtung Graz ab. Dort hieß es wieder warten. Dann wurde der Zug recht überraschend durch das – gerade erst wirklich unabhängig gewordene – Ungarn umgeleitet. Ohne stehenzubleiben fuhren wir Richtung Belgrad weiter. An der Grenze zu Jugoslawien war erst einmal Schluss. Ein Schaffner kam, aber er wusste nicht mehr, als wir alle. Es dauerte stundenlang, dann fuhren wir weiter, und zwar in die richtige Richtung! Wir hielten noch mehrmals auf offener Strecke, aber irgendwann kamen die Griechischen Zöllner in das Abteil: Wir hatten es geschafft. Es war übrigens für längere Zeit der letzte Zug, der von Wien nach Griechenland gefahren ist.

Es war natürlich viel zu spät, um weiter nach Florina zu fahren, daher blieben wir eine Nacht in einem Hotel am Bahnhof. Am nächsten Tag erwies sich Florina als nettes Städtchen, wir fanden die Markierung beinahe auf Anhieb, für den Start war alles vorbereitet. Zeitig in der Früh am 31. August brachen wir zur ersten Etappe auf. Nach dreieinhalb Stunden sollte ein Unterstand kommen, bei dem man schlafen konnte, nach acht das Etappenziel. Obwohl es kaum noch Markierungen gab, waren wir bereits nach knapp drei Stunden beim Unterstand, und gingen frohgemut weiter. Eine relativ kurze Etappe zum Anfangen, das kam uns gelegen. Nach acht Stunden waren wir immer noch nicht da. Auch nach zehn nicht. Wir waren frustriert und enttäuscht. Der Waldweg führte in endlosen Mäandern durch eine Mittelgebirgslandschaft. Wir waren rechtschaffen müde, selbst Hanna, unsre Hündin, wirkte angeschlagen und kein bisschen übermütig. Wir mussten entweder den Weg verloren, oder den Ort übersehen haben. Nach elf Stunden war klar, dass wir Campieren mussten. Wir hatten unser Zelt dabei, aber ebenen Platz konnten wir keinen finden. Also weiter. Zwölf Stunden. Nun war uns alles egal: Wir würden das Zelt mitten am Weg aufbauen. „Lass mich noch ums Eck schauen, vielleicht gibt es dort einen ebenen Platz.“ Ich wankte fünfzig Meter weiter, und stand mitten auf der Platia, dem Dorfplatz. Wir waren im Fehl zwei Etappen auf einmal gewandert.
Im dem Ort gab es sogar ein echtes Hotel, aber die wollten uns kein Zimmer vermieten, denn die Zimmer seien in unzumutbarem Zustand. Wir bettelten und am Ende durften wir doch dort übernachten. Das Essen war hervorragend, das Zimmer vermutlich das Komfortabelste, in dem ich jemals geschlafen hatte.


Die erste Etappe war uns eine Warnung gewesen, wir lasen danach genauer, das Missverständnis ließ sich auf einen Übersetzungsfehler in der englischen Ausgabe zurückführen. So etwas ist uns danach zum Glück nicht wieder passiert. Tatsächlich war der Weg aber über die ganze Strecke hin beinahe unmarkiert. Jäger, so hatte man uns erzählt, hätten die Markierungen entfernt, um die Touristenhorden abzuhalten. Ebendiese Jäger wiesen uns aber immer sehr zuvorkommend den Weg, wenn wir sie trafen. Leider trafen wir nur alle paar Tage irgendwo außerhalb der Ortschaften auf Menschen, an den meistens Kreuzungen konnten wir also niemanden fragen. Wenn wir an eine kamen, die wieder einmal nicht markiert war, dann mussten wir uns trennen. Einer ging nach links, einer nach rechts, und wir hofften, so wieder auf eine der wenigen Markierungen zu stoßen, oder jemanden zu treffen. Orte entlang des Weges gab es nur selten, es waren fast ausschließlich unsre jeweiligen Etappenziele. Nordgriechenland ist abseits der Städte sehr dünn besiedelt, verfehlt man einen Ort, dann gibt es im Umkreis von 20-30 Km keinen Weiteren. Damals waren diese Orte noch durchgängig bewohnt, von anderen Wanderern haben wir gehört, dass das heute nicht mehr der Fall sei. In den meisten Orten gab es auch noch ein Xenodochion, die Gemeindeherberge, in der man gegen geringes Geld schlafen konnte. Auch das soll sich geändert haben.
Erwartungsgemäß erwies sich unsre Karte war wenig hilfreich. Das Problem war nur der Maßstab, zumindest einmal war sie auch wirklich falsch, was uns ein paar Stunden Irrweg einbrockte.
Die Wanderung war trotz aller Strapazen wunderschön. Landschaft und Vegetation waren uns fremd, und doch auf seltsame Art vertraut, wir haben einige wirklich nette Menschen kennengelernt. Manches Mal, wenn es kein Xenodochion gab, wurden wir von Leuten eingeladen, die uns ihr Schlafzimmer überließen. Einmal kam es zum Streit zwischen dem Besitzer des Caffenions und dem Bäcker, wer uns beherbergen durfte. Der Bäcker gewann, denn seine Frau spielte als Trumpf eine hervorragende Suppe aus. Im Zelt wollte man uns generell nicht schlafen lassen, zu groß war die Angst vor den Wölfen. Alpenvereinshütten, wie bei uns, gab es nur in den Schigebieten und am Olymp.

Das Land ist gebirgig und, ich habe es bereits erwähnt, unglaublich dünn besiedelt, heute noch dünner als damals. Wenn wir über einen der vielen Pässe kamen, und irgendwo, unten im Tal, ein Hirte mit seiner Herde dahinzog, dann konnten wir beobachten, die die Herde nach kurzer Zeit die Richtung änderte, sodass unser Weg den der Herde kreuzten musste. Als erstes kamen und die Hirtenhunde entgegen, und zwangen uns, stehen zu bleiben. Erst dadurch schien der Hirte auf uns aufmerksam zu werden und kam, ohne Hast, auf uns zu. Er rief die aufgeregt bellenden Hunde zur Ordnung, dann kamen die stets gleichen Fragen nach dem Woher und Wohin, nach der Familie, ob Griechenland schön sei und ob wir kein Auto hätten. Wenn diese genau definierte Prozedur abgeschlossen war, bot uns der Hirte von seinem Käse an und nahm im Gegenzug, nachdem er es einige Male abgelehnt hatte, mit Freuden unser Brot. Wir aßen gemeinsam, dann fragten wir nach dem Weg, verabschiedeten uns, und zogen weiter.

Nur einmal waren die Verwalter eines Xenodochions unfreundlich. Natürlich nahmen sie uns auf, denn das Gastrecht ist heilig, aber man merkte, dass sie uns absolut nicht wollten. Erst, als sie zufällig unsre Eheringe bemerkten, wurden sie sehr zuvorkommend, holten Holz für den Boiler und ließen uns eine heiße Badewanne ein, den größten Luxus, den es für einen Weitwanderer geben kann.

Ein andermal hatten wir den Weg verloren. Wir wussten, dass wir den Fluss auf dem Damm eines Kraftwerks überqueren mussten. Und tatsächlich sahen wir ein Kraftwerk, tief unten in einer Schlucht. Beim Abstieg kamen wir zu Fall und Lisi verletzte sich leicht, die Narbe sieht man bis heute. Unten war kein Weg und die Dunkelheit überraschte uns. Wir mussten am Fluss campieren. Am nächsten Morgen wollten wir über den Fluss, aber wir fanden den versprochenen Zugang zum Kraftwerk nicht. All unsre Rufe blieben ungehört, daher kletterten wir über den hohen Zaun und durchquerten erst das Umspannfeld (ich hatte Elektrotechnik studiert und kannte mich damit aus), dann spazierten wir über den Damm. Unbehelligt kamen wir an der Straße auf der anderen Seite an. Dort gab es einen bewaffneten Wachposten. Seine Aufgabe war es, unberechtigte aus dem Kraftwerk fernzuhalten, was er mit Unberechtigten tun sollte, die das Kraftwerk verlassen wollten, wusste er nicht. Instinktiv zogen wir es vor, kein Wort zu verstehen. Der Mann konnte keinen seiner Vorgesetzten erreichen und erschießen wollte er uns nicht. Mitten in seine Verzweiflung baten ihn um Wasser, das er uns natürlich nicht verwehren durfte. Am Ende ließ er uns vom Schlauch trinken und weiter gehen. An dem Abend kamen wir übrigens bei einer sehr netten Familie unter.

Wenig erwartet hatten wir uns vom Olymp. Unser Weg dorthin war auch von einem Unglück begleitet: Lisi hatte sich in Dion beim Abendessen den Magen so verdorben, dass wir dort einen Tag bleiben mussten, und sie nur geschwächt am nächsten Tag starten konnte. Wir übernachteten auf dem Refugium A, die Hütte war voller Touristen, die von den umliegenden Badeorten gekommen waren. Wir fühlten uns dort unwohl, denn wir waren den Trubel nicht mehr gewohnt. Am Aufstieg zum Skolio, dem Gipfel, hängten wir diese Touristen aber sehr schnell ab und konnten die Ruhe am Heimatort der Götter so richtig genießen. Der Abstieg war wunderschön, einsam aber sehr anstrengend. Teilweise ist der Weg ausgesetzt und überraschend schwer zu finden. Immer wieder gehen dort Leute verloren.

Der Weg führte uns dann nach Metheora. Wir besichtigten ein Tag lang Klöster. Besonders in Erinnerung sind mir griechische Studenten geblieben, die sich mit unsrer Hündin angefreundet hatten. Ein Mädchen fand sogar ihren Namen heraus, denn sie las die Plakette, die Hanna um den Hals hängen hatte: „Hundemarke“. Hanna war jeder Name recht, wenn sie dafür gefüttert wurde, und das wurde sie.

Eine der Etappen führte über eine Schnellstraße, für die haben wir uns ein Taxi gemietet. Oft hielten Autos neben uns, und boten uns an, uns mitzunehmen, und wenn es bereits spät war, und der Ort immer noch nicht in Sicht, sind wir mitgefahren. Hanna saß dabei zumeist auf der Ladefläche des Pickups, wir, wenn es ging, innen. Einmal fuhren wir aber auch auf der Ladefläche zwischen mehr als dreißig Schafen.
Die Wege zumeist uralte Pfade, die sich durch die Berge ziehen, manchmal auch staubige Schotterpisten. Damals war unser Hauptproblem die Orientierung. Neben der ständigen Gefahr, sich zu verlaufen, gab es auch noch Ziegen oder Schafe, die ober uns Steine lostraten. Einmal sind wir unversehens in eine Sprengung geraten, hatten aber Glück und überstanden das Abenteuer unverletzt. Die Arbeiter hatten einfach nicht damit gerechnet, dass jemand aus dieser Richtung kommen könnte. Im Touristenort Dion, am Fuße des Olymps, haben wir und beim Abendessen einen entsetzlichen Durchfall geholt und waren einen Tag krank.
Diese Wanderung war das große Abenteuer, das wir uns erwartet hatten. Das Abenteuer, das das Ende unsrer Jugendzeit markierte. Es ist uns unvergesslich.

